Was für ein Jubiläum?!
Weil das Deutsche Jazzfestival Frankfurt zwischen 1958 und 1990 nur alle zwei Jahre stattfand, kommt es erst 2019 auf 50 Ausgaben.
Wie es überhaupt zu dem Festival kam und welche wilden musikalischen Stationen es im Laufe der Jahrzehnte passiert hat, erfahren Sie auf den folgenden Seiten in unserem Webspecial.
Die Anfänge
Die Deutschen All Stars 1953
Das erste Festival
Das Line-up: Frankfurts Lokalmatadore, die Two Beat Stompers, vertreten den traditionellen Jazz, ergänzt um den afroamerikanischen Blues-Barden Big Bill Broonzy.
Zum krönenden Abschluss spielt eine All-Star-Formation, ausgewählt mittels einer Leserumfrage der Zeitschrift Gondel nach den besten Jazzinstrumentalisten Deutschlands. Drei der Musiker erlangen bald Starruhm über den Jazz hinaus: Paul Kuhn am Klavier, Hans (später James) Last am Bass und Max Greger (Tenorsaxofon).
Die Macher im Hintergrund"Ich wollt ja kei Konzerte mache..."
Von der Bühne hält sich Lippmann allerdings in der Regel fern, die Moderation der Festivals überlässt er Olaf Hudtwalcker und später Werner Wunderlich. Nur als Schlagzeuger der Two Beat Stompers ist er tatsächlich doch selbst auf der Bühne.
Zusammen mit seinem Partner Fritz Rau betreibt Lippmann später die wichtigste deutsche Konzertagentur für Jazz, Blues, Rock und Weltmusik. Das Programm des Deutschen Jazzfestivals prägen Lippmann + Rau drei Jahrzehnte lang.
Deutsche Jazzföderation Die Vorgeschichte
Anfang 1951 notiert Horst Lippmann in einem Brief: "Am kommenden Sonntag fahre ich zur 3. Arbeitstagung westdeutscher HC's. Haben eine Tagesordnung wie ein rechtparteilicher Jugendclub. Fangen schon um 9:30 an und schließen dann um 18:30 mit 'geselligem, zwanglosem Beisammensein!'. Ich bin gespannt wie ein Regenschirm, aber irgendwie reizen mich diese Jazzspiessbürger ungemein.“
Parkbanknächte - Werner Wunderlich erzählt
Mekka des Jazz
Schnell wächst das Festival auf zwei Abendkonzerte, eine Matinee und einen Jazzband-Ball am Pfingstmontag. Der bietet die richtige Party-Stimmung zum lockeren Ausklang. Der Jazzkeller ist schlicht zu klein, denn Frankfurt wird über Pfingsten "zu einem Mekka des Jazz", wie Joachim Ernst Berendt schreibt: "Nicht nur in den Konzerten, auch auf dem Domplatz und in den Anlagen, an den Mainufern und in den Cafés ... überall traf man sie: die Jazzfreunde, die nach Frankfurt gewallfahrt waren."
"Etwas Wunderbares" - Stimmen zum Festival
"Alljährlich etwas vom Besten,...
Fachleute von Plattenfirmen, Rundfunk und der Presse hören in Frankfurt die maßgeblichen deutschen Bands und lernen die Musiker persönlich kennen. Die Funktionäre der Deutschen Jazzföderation gehen ihrerseits auf die Medienvertreter zu, um für eine umfangreichere und seriösere Repräsentanz des Jazz zu werben.
Der Ort für Anspruchsvolles
Ganz anders beim Deutschen Jazzfestival: Hier werden einheimische Musiker erstmals vor großem Publikum in konzertanter Atmosphäre präsentiert und die Mitschnitte im Rundfunk ausgestrahlt.
"Das war eine gewaltige Anregung für die Szene. Damit wurde die deutsche Jazzszene eigentlich erst geschaffen", resümiert später Fritz Rau.
Medienrummel
"Auf der Bühne standen 13 Mikrophone, so viele stehen sonst nur auf den Pressetribünen bei Fußball-Länderkämpfen", schreibt die Frankfurter Neue Presse bereits 1954, um zu resümieren: "Dieses Festival war aufregender als ein Sechstagerennen, überfüllter als eine Parteiversammlung, internationaler als ein Diplomatenempfang.“
"Unterprimaner im Kleiderschrank" - aus der Rede des hr-Intendanten
Gesellschaftliche Anerkennung
"Wenn das Erlebnis einer Beethoven-Symphonie den Zuhörer an die Tore der Ewigkeit führt, stößt der Jazz den Menschen vor die trostlosen Türen eines Stundenhotels der Gefühle... Das Erlebnis ist von packender, reinigender Unmittelbarkeit, behaftet mit der tragischen Flüchtigkeit des Rausches....“
Gegen Ende des Jahrzehnts wird der Jazz in gebildeten Kreisen als eigenständige Kunstform anerkannt, wie die Eröffnungsansprache des damaligen hr-Intendanten Eberhard Beckmann beim 6. Deutschen Jazzfestival 1958 belegt:
Guenter Kieser im Interview
Kiesers PlakatkunstNeue Welt - neues Design
Pérez/Patitucci/Blade im hr-Sendesaal (Ausschnitt)
Von der Alten Oper bis zum Zirkuszelt
Seit 2016 findet der 5. und letzte Tag des Festivals im Künstlerhaus Mousonturm statt. Der ungewöhnlichste Austragungsort ist ein Zirkuszelt auf dem Gelände des Hessischen Rundfunks im Jahr 2004. Dort treten Zirkusartisten gemeinsam mit verschiedenen Bands auf, um deren Musik mit ihrer Kunst eine ungewöhnliche optische Dimension hinzuzufügen. Tatsächlich knüpft das Festival damit auch an seine Ursprünge an, denn der Althoffbau der 50er Jahre war nichts anderes als ein hölzernes Zirkuszelt.
Offene Ohren
Das zeigt sich etwa 1974 bei der Ansage für Ravi Shankar's Music Festival of India. Das Publikum hat damals, am dritten Festivaltag, bereits eineinhalb Stunden Musik gelauscht. Aber von Erschöpfung keine Spur: auf die Auskunft, dass Shankar nun sein komplettes zweieinhalbstündiges Programm spielen werde, reagiert der Saal mit begeistertem Applaus und Jubelrufen.
Zwei Jahre vorher mischen sich dagegen Buhrufe in den Applaus für eine Soloimprovisation Chick Coreas, die in der damals Free-Jazz-affinen Zeit offensichtlich manchen "zu schön" geklungen hat.
2017 verwandelt Cory Henry das bestuhlte Parkett der Alten Oper mithilfe des Publikums in den vielleicht größten Dancefloor Frankfurts.
Stile und Farben
Jazz-Vielfalt
Hans Koller New Jazz Stars mit Albert Mangelsdorff (Pos.), 2. Deutsches Jazzfestival 1954
Cool Jazz und Experimente
Bis heute werden immer wieder auch Kompositionen in Auftrag gegeben, so z.B. an Heiner Goebbels für das Ensemble Modern ("La Jalousie", 1991) oder 2018 an Matthias Schriefl für das Projekt "The Big Amithias - Allgäu meets India".
Brötzmann, Van Hove, Bennink und Mangelsdorff 1972
Free Jazz und Happening
Zwei Jahre später wird ein ganzer Abend dem Free Jazz gewidmet. Obwohl "vorgewarnt", zeigen sich die Zuschauer schockiert angesichts eines Happenings, in dessen Verlauf Schlagzeuger Fred Braceful nackt über die Bühne springt und Wolfgang Dauner eine Geige zertrümmert. Sind diese Publikumsreaktionen durchaus einkalkuliert, so scheinen die Akteure ihrerseits überrascht, als Musiker, die im Auditorium sitzen, ihre Instrumente auspacken und das Bühnengeschehen kommentieren.
Master Musicians of Jajouka (Ausschnitt)
Weltmusik
Nordafrikanische Sufi-Musik, Jazz und mehr treffen in einer eigens für das Festival 2014 inszenierten Begegnung der Master Musicians of Jajouka mit einer Formation um den amerikanischen Schlagzeuger Billy Martin aufeinander. Der indische Tabla-Virtuose Zakir Hussain, der zum Jubiläumsfestival 2019 mit seiner Formation Crosscurrents Trio kommt, war bereits 1984 zusammen mit Jan Garbarek, Shankar und Trilok Gurtu zu Gast.
Sunshine of your love
Blues und Rock
Einer der damaligen Höhepunkte: die Begegnung des legendären Bassisten und Sängers Jack Bruce mit der hr-Bigband.
Volker Kriegel mit dem Mild Maniac Orchestra 1976
Jazzrock / Fusion
Zwei Jahre später ist diese Musik bereits stark vertreten, etwa mit Klaus Doldingers Passport, Pierre Courbois' Association P.C., der Jean-Luc Ponty Experience und der Frankfurter Formation From.
Seitdem spielt die Fusion von Jazz mit Energie der Rockmusik immer wieder eine Rolle auf dem Frankfurter Festival und wird u.a. 2012 sogar zum Motto unter dem Titel "Jazzrock jetzt!"
Being for the Benefit of Mr. Kite
Europa!
Seitdem stellt das Deutsche Jazzfestival immer wieder interessante europäische Acts vor, gelegentlich auch in ungewöhnlichen Konstellationen. So treffen der bulgarische Flötist Simeon Shterev und das Trio des Norwegers Jan Garbarek 1972 auf den amerikanischen Pianisten Chick Corea. 2016 orchestriert der britische Musiker Django Bates das "Sgt. Peppers"-Album der Beatles für die hr-Bigband und seine mit schwedischen, dänischen und britischen Musikern besetzte Band.
Michael Brecker solo (Ausschnitt)
Gäste aus ÜberseeGreat Americans
Seitdem hat das Festival viele Größen aus dem Mutterland präsentiert, gelegentlich auch in einmaligen Konstellationen. So gestaltet etwa Michael Brecker 2002 einen Soloauftritt nur mit seinem Saxofon. Beim Jubiläumsfestival 2019 gibt es ein Wiedersehen mit Charles Lloyd.
Newcomer
Günther Kiesers Plakat von 1978 findet ein treffendes Bild für diesen Anspruch des Festivals und die Fähigkeit des Jazz zur stetigen Verjüngung und Erneuerung.
Schröder/Dell Quartett 1992
Frankfurter Szene
Der Darmstädter Vibraphonist Christopher Dell, 2019 mit seiner Formation "Boulez Materialism" wieder mit von der Partie, begeistert bereits 1992 im Quartett mit dem Frankfurter Gitarristen John Schröder.
Cory Henry & hr-Bigband (Ausschnitt)
hr-Bigband
2017 huldigt der Hammond-Virtuose Cory Henry seinen Gospel-Wurzeln in einem mitreißenden Set unter Leitung von Jim McNeely.
Einmaliges
- Joe Henderson & Albert Mangelsdorff play Flamenco (1974)
- "Tenorsaxes Today" mit Heinz Sauer, Archie Shep und George Adams (1978)
- Heinz Sauer und Bob Degen treffen auf den Bluesharp-Spieler Carey Bell (1982)
- Chet Baker und Archie Shepp (1988)
- Art Ensemble of Chicago meets Don Pullen (1991)
- Ginger Baker Trio mit Bill Frisell und Charlie Haden (1995)
- "Earth Song" mit Pharoah Sanders, Eberhard Weber, Foday Musa Suso (1997)
- Heinz Sauer, Michael Wollny und das Radio String Quartet Vienna (2007)
- "Impressions of New York": Rolf und Joachim Kühn treffen auf John Pattitucci und Brian Blade (2011)
Seit 66 Jahren und 50 AusgabenAm Puls der Zeit
Es ist Abbild der aktuellen Trends, legt dabei ein besonderes Augenmerk auf die einheimische und europäische Szene und macht weiter durch einmalige Projekte auch überregional von sich reden. Nach wie vor ist es auch ein Festival für Unerhörtes.
Überzeugen Sie sich selbst! (Festival-Programm 2019)
Impressum
Redaktion/Produktion: Matthias Grimm
Grafik und Design: Kerstin Henninger
Bilder
Deutsche Allstars © Wolfgang Nischk
Horst Lippmann © Horst Bethke/hr
Hot Club Frankfurt © Susanne Schapowalow
Albert Mangelsdorff © Hofmann
Caterina Valente & Kurt Edelhagen © Susanne Schapowalow
Wolfgang Sauer Band © Wolfgang Nischk
Jutta Hipp im Publikum © Susanne Schapowalow
Peréz/Patitucci/Blade im hr-Sendesaal © Sascha Rheker
Cory Henry im Publikum © Sascha Rheker
hr-Sinfoniker & hr-Jazzensemble © Kurt Bethke
Master Musicians of Jajouka © Sascha Rheker
Michael Brecker © Urban Kirchberg
Archie Shepp & Chet Baker © Urban Kirchberg
Dinosaur © Dave Stapleton
Mehr zur Geschichte des Festivals und der Jazzstadt Frankfurt finden Sie in dem Buch:
"Der Frankfurt Sound - Eine Stadt und ihre Jazzgeschichte(n)" Autor: Jürgen Schwab; Herausgeber: Stadt Frankfurt, Hessischer Rundfunk und Jazzinstitut Darmstadt; Bild- und Textband mit CDs; 2. Auflage, Juni 2014, 322 S., Societäts-Verlag, 25,- €, ISBN: 978-3-7973-08887
Eine Produktion von hr-online und hr2-kultur 2019